Hier folgt eine Betrachtung zu dem Lied "Macht hoch die Tür … "(GL 218) von Pater Karl Kern, SJ:
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …“ Dieses Lied ist in allen christlichen Konfessionen zum Inbegriff des Advents geworden – bis hinein in unsere säkular geprägte Gesellschaft. Die eingängige Melodie in Es-Dur verbreitet eine schwingend-wiegende, feierlich-gelöste Atmo-sphäre. Adventsgefühle und Vorfreude werden geweckt – in Kirchen wie in Kaufhäusern.
Religiös geht es in unserem Lied um die Offenheit des Herzens für Gott. Das Wort „Advent“ heißt bekanntlich „Ankunft“ und meint das dreifache Ankommen des Sohnes Gottes, damals bei seiner Geburt, heute in unserer Gegenwart und einmal für immer am Ende der Zeit. Gott ist nach biblischer Tradition der „Allherrscher“, „der ist und der war und der kommt“ (Offb 1,8) Advent bedeutet für den gläubigen Christen: Ich bereite mein Herz, um den gegenwärtig ankommenden Gott und seinen menschgewordenen Sohn in mein Inneres aufzunehmen. Dazu ist sicher mehr als ein wenig wohlige Adventsstimmung nötig. Wir leben in einem säkularen Zeitalter, wo man sich ab und zu auch mal spirituelle Gefühle gönnt, doch Gott als Mitte, Ursprung und Ziel allen Daseins spielt bei den meisten unserer Zeitgenossen kaum eine Rolle. Menschen früherer Jahrhunderte wie etwa vor 400 Jahren ha-ben Gott noch viel selbstverständlicher als daseinsbestimmende Macht, als Welthintergrund empfunden. Die rasante Entwicklung von Wissenschaft, Technik, von persönlicher und ge-sellschaftlicher Autonomie hat Gott mehr oder weniger aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängt. Unser Lied ist, unverändert im Text, genau 400 Jahre alt. Georg Weißel, ein evangelischer Pfarrer, dichtete es in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts. Wir leben im Advent 2024 in einer krisenhaften, säkular geprägten Welt. Wie mit einem Lied umgehen, das so selbst-verständlich mit Gottes Gegenwart rechnete? Alfred Delp meinte schon vor über 80 Jahren, der moderne Mensch sei infolge seines Lebensstils und seiner sozialen Situation nicht mehr gottoffen und somit empfänglich für die Gegenwart Gottes. Kann dieser alte Text samt sei-ner wunderbaren Melodie helfen, heute zur mehr Gottoffenheit zu finden? Georg Weißel schrieb diese Verse in Königsberg, einer preußischen Stadt weit im Osten, die vom Dreißigjährigen Krieg verschont blieb und deshalb wirtschaftlich und kulturell aufblühte. Eine freudig-hoffnungsvolle Grundstimmung teilt sich in seinen Zeilen mit. Zur selben Zeit schrieb der junge Jesuit Friedrich Spee in Würzburg ebenfalls ein bis heute klassisches
Adventslied: „O Heiland, reiß die Himmel auf …“. „Wir leiden hier die größte Not“, wurde da gesungen – in dem Teil Deutschlands, der von dem verheerenden 30jährigen Krieg heimgesucht wurde. Auch heute schwankt die Gefühlslage vieler Menschen zwischen Wohlergehen und Bedrohungsangst. Unser Wohlstandsmodell ist brüchig geworden Es rumort im untergründigen Bewusstsein: Kriegsahnung, Krise der Demokratie bis zur Befürchtung einer digital und medial total gesteuerten Gesellschaft, und das inmitten einer hektischen Adventszeit, wo so vieles zu erledigen und vorzubereiten ist und eine sogenannte Weihnachtsfeier die andere ablöst. Georg Geißel, der evangelische Pfarrer, lebte aus seiner protestantisch-konfessionellen Kultur. In seiner Kirche wurde am 4. Sonntag vor Weihnachten das Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem gelesen (Mt 21,1-9), eine Szene, in die Matthäus ein Zitat aus dem Propheten Sacharja hineinkomponiert hat: „Sagt der Tochter Zion: Siehe dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers“ (Sach 9,9). Schon beim Kirchenvater Origenes wurde der Einzug Jesu in seine Stadt mit dem Psalm 24 verbunden, dessen Vers 7 in der Lutherübersetzung lautete: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ Aus diesen drei Schriftstellen sowie aus weiteren kurzen Schriftzitaten ist der Bildteppich unseres Liedes zu einer genialen Einheit verwoben. Die erste Strophe spielt das Leitmotiv aus Psalm 24 ein. Im Urtext heißt es: „Erhebt, ihr Tore, eure Häupter, ja erhebt euch, ihr Pforten der Urzeit, dass einziehe der König der Herrlich-keit.“ Wahrscheinlich wird hier auf eine alte Tempelprozession in Jerusalem angespielt, bei der – mit oder ohne Bundeslade – der Gott Israels in seinen Tempel einzieht. Die universale Königsherrschaft Gottes wurde damit rituell gefeiert. Christen leben aus dieser jüdischen Tradition und haben den alten Text auf den Einzug Jesu bezogen. Denn er ist als „Heiland“ und „König aller Königreich“ das lebendige Symbol der Königsherrschaft jenes Gottes Israels, der als „Herr der Herrlichkeit“ das innerste Geheimnis der ganzen Welt ist. Georg Weißel hat die den Urtext verändernde Übersetzung Luthers übernommen, in der durch das Doppelbild vom Hochziehen eines Falltors und dem Öffnen der Türflügel die gläubige Gemeinde bzw. jeder und jede einzelne aufgefordert wird, im eigenen Herzen Gott selbst und seinen menschgewordenen Sohn zu erwarten. Als Christen müssen wir uns heute fragen: Strahlen wir diese Sehnsucht, diese Offenheit für den „ganz Anderen“ aus – und zwar in der Mitte unseres Lebens, nicht nur an den Rändern
in tiefstem Elend oder bei überfließendem Glück. Wenn wir unserer Zeit etwas schuldig sind, dann dieses Eine: aus der Offenheit für den auf uns zukommenden Gott unseren Mitmenschen authentisch zugewandt zu sein, offen für ihre Fragen und Sorgen, ihre Trauer und Angst, aber auch für alles, was sie beglückt und erfreut. „Gott ist ein Gott der Gegenwart“, schrieb Meister Eckhart. Unser Lied macht deutlich: Es geht um jenen Gott, der hier und jetzt die ganze Welt und alle Menschen angeht. Das „Material“, um sein Gegenwärtigsein zu er-fahren, ist das Auf und Ab unserer Gefühle. Der „Ort“, in dem sich unsere Gottesbeziehung formt, ist das Herz, jenes Symbol für die geheimnisvolle Mitte unserer Existenz. „Advent“ er-fordert darum, unsere Herzmitte hinter all unseren Gefühlen zu bereiten. Die zweite Strophe greift vor allem das Sacharja-Zitat der Einzugsszene auf, und zwar mit dem in der Barockzeit beliebten Zug zur Allegorisierung: Die Sanftmut Jesu ist „sein Gefährt“, seine Heiligkeit, seine Zugehörigkeit zu Gott drückt sich in der Königskrone aus. „Sein Zepter ist Barmherzigkeit“: Er steht für eine milde, verzeihende, großzügige Herrschaft. Jesus Chris-tus wendet die Not, weil er einen Herrschaftswechsel verkörpert: Nicht die grausame Dyna-mik von Macht und Gewalt wird siegen, sondern der gewaltlose Friedenskönig wird sich als „groß von Tat“ erweisen. Sind nicht auch heute Menschen für eine solche Friedensvision ansprechbar? Das Gesetz der Geschichte ist meist grausam: Scheinbar triumphiert fast immer die Gewalt! Doch sobald Menschen auf ihre tiefere Sehnsucht hören, meldet sich die zarte Stimme von Gottes allum-fassendem Shalom! Ein neugeborenes Kind strahlt bis heute dieses Licht aus. Weihnachten will zu einer „Neugeburt“ aus Glauben (Joh 1,13) ermutigen, will unsere Fähigkeit wecken, immer wieder neu anfangen zu können. Unser Lied leitet dazu an, sich von Gottes Geist füh-ren und leiten zu lassen. Darin liegt für gläubige Menschen die ganze Seligkeit: eins zu sein mit Gott in allem, was wir denken, fühlen und tun. Die dritte Strophe stellt heraus, dass diese Gnadenerfahrung eine soziale Dimension hat: „Land“ und „Stadt“, „alle Herzen“ sollen von dieser überströmenden „Freud und Wonn“ er-griffen werden. Doch das geschieht nicht von selbst. Die vierte Strophe greift wieder das An-fangsmotiv der geöffneten Tore und Türen auf und betont: Gottes Gnadensonne kann uns nur erreichen, wenn wir dafür den Tempel unseres Herzens bereiten. Glaube ist immer ein zweiseitiges Begegnungsgeschehen. Auf echte Begegnungen muss man sich einstimmen und enge Beziehungen müssen immer gepflegt werden. Die Fähigkeit zu wirklicher Begegnung muss wachsen und reifen, auch durch Dunkel und Krisen hindurch. Die
„Zweiglein der Gottseligkeit“ – eine Anspielung an die Palmzweige beim Einzug Jesu in Jeru-salem – wachsen erst in einem lebenslangen Prozess der immer neuen Gottsuche. Sie blü-hen auch nicht jeden Tag. Die Seligkeit, die Jesus zB in der Bergpredigt verheißt, ist eine Kon-trasterfahrung für Arme, Trauernde, Weinende und Machtlose, die ihr ganzes Vertrauen auf Gott setzen (Mt 5,1-12). Die letzte Strophe mit der Bitte „Komm, o mein Heiland Jesu Christ“ spricht aus, was unser Lied zuinnerst bewegt: die urpersönliche Sehnsucht nach dem Gottmenschen. Gott im Menschgewordenen zu begegnen und diese Ur-Begegnung mit dem, der „von oben“ kommt, in unserem Leben „unten“ von Mensch zu Mensch fortzusetzen – das ist die Quintessenz des christlichen Glaubens. Christsein heißt: die universale göttliche Liebe aufnehmen und weiter-tragen. Solch täglich gelebte Liebe kann nur aus dem Geist der Innerlichkeit erwachsen und ist letztlich Gnade. Diese Botschaft will unser Lied vermitteln. Deshalb enden in jeder Strophe die letzten zwei von jeweils 8 Zeilen mit dem Lob Gottes, weil er der letztlich Handelnde ist! Die achtsilbige Sechsergruppe ist in allen Strophen immer paargereimt (aabbcc). Die sechssilbige Zweiergruppe am Ende scheint zunächst ohne Reim zu sein, doch zeigt sich beim Blick auf das ganze Lied, dass sich die Schlusszeilen strophen-übergreifend reimen (Rat, Tat, spat, Gnad). Die vorletzte Zeile jeder Strophe wiederholt sich bis zur 4. Strophe wie ein Refrain, der sich einprägen soll: „Gelobet sei mein Gott“ Erst in der 5. Strophe klingen auch die beiden letzten Zeilen mit einem Paarreim aus: „Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Preis und Ehr.“ In der Barockzeit legte man großen Wert auf die strenge Form, was bei unserem Lied den Vorteil hatte, dass der ursprüngliche Text nicht ver-ändert wurde. Die heutige Melodie kam allerdings erst Anfang des 18. Jahrhunderts durch einen unbekannten Komponisten hinzu.
Was macht dieses Lied so besonders? Es lässt in Text und Melodie eine Ur-Sehnsucht aufklin-gen, die in allen Menschen grundgelegt ist: die Sehnsucht nach restloser Erfüllung in einer liebevollen Ich-Du-Beziehung. Wir Menschen überfordern uns, wenn wir solche Seligkeit voneinander erwarten. Alles Menschliche bleibt Fragment. Die Frohe Botschaft sagt uns: Der ewige Gott hat aus Liebe zur Welt uns seinen Sohn geschenkt. Der Menschgewordene ver-körpert die grenzenlose Liebe Gottes. Wer ihn im Herzen aufnimmt, hat teil an der göttlichen Liebe. Unser Lied ermutigt zu dieser Herzensbereitschaft. Es verheißt allen, die ein Leben lang Gott suchen, eine stille, überwältigende Freude, die kein Weihnachtsmarkt und keine Weihnachtsfeier bieten können. Lassen wir uns ein auf den wahren Advent!